Die Wahl für den Urlaub im Spätsommer 2007 war auf die griechische Insel Chios gefallen. Die ostägäischen Inseln kannte ich bisher noch nicht, gegenüber seinen bekannteren Schwestern Lesbos und Samos versprach sie einen Urlaub in ruhigerer Umgebung, ohne deshalb nicht auch ausreichend Entdeckenswürdiges zu bieten.
Chios liegt ungefähr gleich südlich wie Athen nahe am kleinasiatischen Festland. Mit 910 km² ist es die fünft größte griechische Insel, die von etwas über 50.000 Menschen bewohnt wird, wovon mehr als die Hälfte in Chios-Stadt (Chora) wohnen. Die Stadt liegt zwischen dem recht geschäftigen Hafen und den bald aufstiegenden Bergen. Nach den Zerstörungen durch das schwere Erdbeben von 1881 wurden fast alle Bauten neu errichtet, nur wenige der neoklassizistischen Bauten blieben erhalten. Trotzdem ist es schön, nach dem anstrengenden Shopping in der lebendigen Innenstadt in eines der zahlreichen Cafes entlang des Hafens einzukehren.
Natürlich gibt es in Chios-Stadt mehr zu sehen, immerhin hat es von eine langen und wechselvollen Geschichte zu erzählen. Funde seit dem Neolithikum und aus der Antike aus dem Stadtgebiet und der ganzen Insel befinden sich im äusserst sehenswerten Archäologischen Museum. Die am nördlichen Hafenende gelegene Altstadt ist von einer römisch-byzantinischen, später von den Genuesern ausgebauten Befestigungsanlage umschlossen, die auch heute noch gut erhalten ist. Im Palast des Statthalters von Genua befindet sich das Byzantinische Museum, bis es nach der Sanierung wieder in die ehemalige Moschee zurücksiedeln kann, die ebenso wie schöne Brunnenanlagen aus der langen Herrschaftszeit der Osmanen über die Insel stammt.
Sehr gut gefallen habt mir auch das Nautische Museum, das in einer neoklassizistischen Villa untergebracht ist, die einst einer Reederfamilie gehörte. Viele der weltweit bedeutensten Reedereien sind im Besitz von Familien, die ihren Ursprung auf Chios oder der kleinen Nachbarinsel Inousses haben. Der Erfolg der chiotischen Seefahrer reicht jedoch weiter zurück, schon bei der Kontinentalsperre während der Napoleonischen Kriege, später im Krimkrieg und als Versorger der Alliierten im 2. WK konnten die Flotteninhaber gute Geschäfte machen und expandieren.
Blättert man im Griechenland-Reiseführer, so findet man das Kloster Nea Moni als die bedeutendste Sehenswürdigkeit der Insel. Die Klosteranlage befindet sich in einer Senke am Berg 670 m über der Inselhauptstadt. Zusammen mit zwei weiteren Klöstern findet es sich auch auf der Liste des Weltkulturerbes wieder, befinden sich dort in der Klosterkirche einige der hochwertigsten Mosaike, die aus byzantinischer Zeit erhalten sind. Die außergewöhnliche Qualität dieser Kunstwerke führt sich darauf zurück, dass Konstantin IX. Monomachos, als er 1042 zusammen mit seiner Gemahlin Zoe den Kaiserthron von Konstantinopel bestieg, ein gegebenes Gelübde erfüllte und das Kloster erbaute, dass er von den besten Künstlern Konstantinopels ausstatten lies. Leider wird die Kirche noch immer renoviert und konnte nicht besichtigt werden, so dass ich nur Bücher über dieses einzigartige Kunstwerk mitbringen konnte. Den Rest der Anlage und ein angeschlossenes Museum mit wertvollen Kirchenutensilien konnte ich schon besuchen. Die Anlage hat viel von seinem einstigen Glanz verloren. Am Karfreitag 1822 stürmten Türken das Kloster und ermordeten über 4000 Mönche und hier Zuflucht suchende Frauen und Kinder. In der Kapelle im Westturm (14. Jhdt.) wird an diese Gräuel erinnert. Leider verfiel danach die Anlage, erst seit 1950 wird sie wieder von Nonnen bewohnt und nach und nach saniert.
Wenn auch ohne die Mosaike aus einer der Hochphasen der byzantinischen Kunst nach überstandenem Bilderstreit wie in Nea Moni, so kann man sich in der Kirche der Heiligen Apostel in Pyrgi (Πυργί) doch eine eindrucksvolle Vorstellung von der Pracht byzantinischer Kirchen machen. Im 15. Jhdt. wurde hier eine verkleinerte Kopie der Kirche von Nea Moni errichtet, die wunderbaren Fresken stammen aus 1655 und sind stark von der Kretischen Schule geprägt.
(Anm.: Die Kretische Schule ist die Fortsetzunge der klassischen byzantinischen Malertradition begründet von Malern aus Konstantinopel, die nach dem Fall der Stadt 1453 nach Kreta und dem Berg Athos geflüchtet waren. Sie zeichnet sich durch geometrische kleinflächige Gesichtsdarstellungen, die stark aufgehellt werden, weiche Umrißlinien und strenge, abstrakte Faltenwürfe aus)
Diese wunderbar stimmungsvolle Kirche besuche ich nicht nur einmal, denn Pyrgi war für die Urlaubsdauer mein Wohnort und die Kirche ist rasch versteckt hinter einem Durchgang, direkt von der Platia, dem Dorfplatz aus zu erreichen. Mit wenigen Schritten ließ es sich weg vom Trubel des Dorfzentrums in die ruhige Welt dieses Gotteshauses eintauchen, um dort den Bewegungen der Figuren an den Wänden zusehen, die dem Flackern der Wachskerzen folgend ihre Geschichten erzählen, während man die schwere Luft des verbrannten Weihrauchs atmet.
Obwohl Pyrgi ursprünglich nicht die erste Wahl bei der Suche nach einer Bleibe war, so stellte sich das ca. 3000 Einwohner zählende Dorf im Süden der Insel vor Ort als optimaler Wohnort heraus. Wegen seiner Attraktivität tagsüber von zahlreichen Tagesausflüglern aus den Touristenorten der Ostseite besucht, dominiert am Morgen und in den Abendstunden das Dorfleben der Einheimischen. Hotel gibt es keines, und die vielleicht zehn nicht-griechischen Besucher verteilten sich auf die wenigen verfügbaren Privatzimmer. Mit meiner Herberge war ich sehr zufrieden, denn gleich ein halbes der alten Steinhäuser mieten zu können, hätte ich gar nicht erwartet. Und vielleicht trugen auch die vielen Eigenheiten die so ein altes Haus inne hat – mehr als in einem Hotelzimmer überhaupt Platz hätten – dazu bei, dass ich mich sehr wohl dort fühlte.
Obwohl es sich bei Pyrgi um eine relativ kleine Gemeinde handelt, so geht es doch sehr geschäftig zu. Mehr als bei uns spielt sich das Leben auf den Straßen und öffentlichen Plätzen ab. Bereits vom frühen Morgen an versammeln sich die älteren Männer in den Kaffeehäusern, um neben einem Backgammon-Spiel die aktuellen Geschehnisse zu diskutieren, während sich die Frauen vorwiegend gruppenweise vor den Häusern zusammensetzen und sich neben Handarbeiten und dem Sortieren von Mastix lebhaft unterhalten. Dazwischen sorgen die fahrenden Händlern, die Fisch, Obst, Gemüse und Haushaltsbehelfe anbieten, immer wieder für zusätzliche Aufruhr. Und erst abends, wenn auch der berufstätige Bevölkerungsteil und die Jugend Zeit finden, sich dazu zu gesellen, glaubt man in einer Großstadt gelandet zu sein, so dicht ist der Platz in der Mitte des Dorfes gefüllt und so ein Geräuschpegel geht von der versammelten Menge aus.
Dazwischen findet man auch als Gast seinen Platz, sei es zum Frühstück bei Kaffee und Pita (gefülltes Blätterteig-gebäck), einer Erfrischung nach der Heimkehr von den Tagesausflügen oder einer immer wieder feinen Mahlzeit am späten Abend in einer Tavernen.
Pyrgi ist aber nicht nur eine guter Platz zum Bleiben, sondern auch ein sehr interessantes Dorf. Am augenscheinlichsten fallen dem Besucher die mit geometrischen Formen verzierten Fassaden rund um die Platia und entlang der Hauptwege auf. Bei der Chysta genannte Technik wird die Fassade zuerst mit dunklem Lavasand verputzt, danach werden aus einem weißen Kalkauftrag jene Flächen herausgekratzt, die dunkel erscheinen sollen. Ihren Ursprung hat diese nur in wenigen Dörfern erhaltenen Technik in der Zeit, als Chios unter der Herrschaft Genuas Stand. Nicht zufällig erinnert die Chysta daher an die Sgraffiti italienischer Renaissancebauten.
Wie auch die anderen Nachbardörfer im Süden wurde der Ort im Mittelalter nach einem auf Verteidigung ausgerichtetem Gesamtplan angelegt. Die aus Stein erbauten Häuser am Ortsrand wurden mit ihren fensterlosen Außenfronten Haus an Haus gebaut, so dass der Eindruck einer zusammenhängenden Stadtmauer entsteht, an den Ecken wurden zusätzliche Wehrtürme errichtet. Die Wohnhäuser wurden nicht verstreut erbaut, sondern die großteils zweistöckigen Gebäude vermitteln in ihrer Dichte einen städtischen Eindruck. Nur eine einzige etwas breitere Straße durchzieht das Gemeindegeviert. Die restlichen Gassen, in ihrer Breite einem beladenen Esel angepasst, sollten mit ihrem labyrinthischen Verlauf eventuelle Angreifer in die Irre leiten. Bogen über den Gassen dienten weniger statischen Erfordernissen, sondern damit wurde die Bewegungsmöglichkeit der Verteidiger über den Köpfen von ins Dorf vorgedrungenen Angreifern hinweg sichergestellt.
Zusätzlich befand sich in der Dorfmitte eine Fliehburg. In dieses besonders massiv gebaute mehrstöckige Gebäude konnten sich die Ortsbewohner bei Bedrohungen zurückziehen und von dort aus den letzten Verteidigungskampf aufnehmen. Nicht in seiner vollen Höhe, aber jedenfalls deutlich erkennbar besteht diese Burg in Pyrgi auch heute noch. Die ringsum liegenden Gassen lassen auch noch deutlich den Verteidigungsgedanken erkennen. Häuser ringsum die Burg dienten als Art Schutzmauer mit nur einem Zugang, die noch zusätzlich mit Wehrtürmen befestigt sind.
So um den dritten Tag wird man von den Bewohnern des Orts als länger weilend wahrgenommen, und ein freundlicher Gruß im Vorbeigehen wird mit den interessierten Fragen nach dem Woher und Wohin beantwortet. Viele nette kurze Gespräche haben sich so ergeben, die mir insgesamt viel Freude bereitet haben. Man wird langsam ein Teil des Dorflebens. Dieses schöne Erlebnis kann man beim Urlaub im Strandhotel einfach nicht mitkaufen, und ich würde es auch nicht eintauschen wollen.
Ebenfalls als Schutz vor Angriffen vom Meer her befinden sich, wie vielfach auf den Inseln, die Dörfer von Chios in geschützten Mulden im Landesinneren. 7 km sind es von Pyrgi bis zur nächstgelegenen Bucht. Allein schon deshalb ist ein Mietauto fast eine Notwendigkeit. Aber es gibt auf Chios ja auch sonst viel zu besuchen. Nach einem gemütlichen Frühstück machte ich mich deshalb täglich auf den Weg, um in den zur Verfügung stehenden zwei Wochen möglichst viel sehen zu können. Im späten September herrscht angenehmes Sommerwetter. Warm genug um aus jedem Tag einen Badetag machen zu können, aber auch nicht so brennend heiß, dass der Entdeckungsdrang dadurch gebremst worden wäre.
Zuerst sind die Nachbardörfer an der Reihe. „Mastichachoria“ heißen die Dörfer der südlichen Inselregion, da hier das wertvolle Harz des Mastixbaumes gewonnen wird. Mesta und Olymboi sind von ähnlicher Anlage wie Pyrgi, jedes mit seiner eigenen Schönheit, seinem eigenen charakterisitischen Dorfplatz und seinen eigenen tollen Kirchen.
Eine ganze Menge von Klöstern gibt es auf Chios, die Mehrzahl davon wird auch heute noch von Nonnen oder Mönchen bewohnt. Man sollte sich daher dessen bewusst sein, dass man bei den Besuchen kein Museum betritt, wo man mit Entrichtung des Eintrittspreises das Recht auf Bewegungsfreiheit erkauft, sondern man als Besucher in einen zumindest teilweise privaten Bereich eindringt. Begegnet man den Klosterbewohnern jedoch freundlich und respektvoll, so wird einem gerne der Zutritt gewährt. Nicht nur einmal wurde ich zusätzlich herzlich mit frisch gerösteten Feigen aus der Klosterküche beschenkt. Meist sind die Kirchen, die durchgängig besonders schön ausgeschmückt sind, abgesperrt und es wird dem Besucher erst aufgeschlossen und man wird während des Aufenthalts im Heiligtum nicht aus den Augen gelassen. Ich fürchte, dass leider Diebstähle vorkamen und deshalb diese Vorsicht angewendet wird. Nur in den größeren Klöstern und Kirchen gibt es dauernd anwesende Aufpasser. Das ist auch der Grund, wieso ich mich beim Fotografieren von Innenräumen zurückhielt und nicht jedes Fresko und jede Ikone abgeknipst habe, obwohl ich gerne mehr Erinnerungen an die interessanten Innenraumgestaltungen mitgebracht hätte. Vielleicht ist aber auch gut, wenn man gezwungen wird, einfach nur ruhig an diesen schönen Orten zu verweilen.
Besondere Verehrung auf der Insel genießt die Heilige Markella. Sie ist eine jener Heiligen der Orthodoxen Kirche, die von der Insel Chios abstammt. Mit 18 Jahren wurde sie zur Märtyrerin, als sie auf der Flucht vor den Nachstellungen ihres Vaters Hilfe bei Gott erflehte. Dieser öffnete einen Felsen, um ihr Zuflucht zu bieten. Ihr Kopf ragte jedoch hervor, so wurde sie von ihrem eigenen Vater enthauptet. Jedes Jahr an ihrem Namenstag, dem 22. Juli strömen viele Pilger in den Nordwesten der Insel zu der ihr geweihten Kirche. Ein kurzer Fußweg am Meer entlang führt zu jener Stelle, an der die schrecklich Tat erfolgt sein soll. Dort tritt warmes Wasser aus einer Quelle, dass jedes mal, wenn in der Kirche Gottesdienst abgehalten wird, zu kochen beginnen soll.
Markella scheint auf Chios auch heute noch ein beliebter Name zu sein, viele Mädchen wurden so gerufen.
Neben den großen Klöstern und Dorfkirchen, die auch im Reiseführer erwähnt und beschrieben werden, finden sich auch sehr viele kleine Kapellen abseits der Siedlungen, meist in ausgesucht schöner Lage. Leider waren viele abgeschlossen. Ließ sich aber einmal eine Tür öffnen, so wurde es spannend. Viele sind schlicht ausgestattet, manche überraschen aber auch mit prachtvollen Fresken und hübschen geschnitzten Ikonostasen. Für den Kunstkenner ließen sich hier so manche alte Schätze entdecken. Aber auch wenn ich bloß als Bewunderer eintrat, so war der Schritt vom grellen Sonnenlicht in diese dunkle, mystische Atmosphäre jedes mal wieder etwas besonderes. Ein paar Minuten in Ruhe zu verharren, den Blick über die gemalten Gesichter streifen zu lassen und den Bewegungen eines brennenden Kerzleins zuzusehen erweckten ein Gefühl tiefer Dankbarkeit in mir, hier sein zu dürfen.
Faszinierend sind auch die vielen alten Steinhäuser in unterschiedlichem Stadium des Verfalls. Mehr noch als landfluchtbedingt in vielen Dörfern Griechenlands finden sich diese auf Chios. Nachdem nach den Massakern von 1822 die Insel fast menschenleer war, wurden nicht alle Dörfer wieder besiedelt. Ganze Ansiedlungen blieben dem Verfall preisgegeben. Einige werden mit viel Aufwand für den Tourismus erhalten (stilvolles Feriendorf Avgonyma, Freilichtmuseum Anavatos), andere verschmelzen nach und nach mit dem Stein der umgebenden Landschaft.
Ich empfand es als ein besonderes Erlebnis, zwischen den Ruinen hindurch durch die Landschaft zu streifen, und in den Resten die Zeugnisse eines einst lebendigen Dorfes erkennen zu wollen. In einer anderen Zeit wurden in den halb eingestürzten Gewölben der Untergeschosse das Vieh eingestellt und Waren gelagert, an den Feuerstellen, über denen sich die Kamine hochziehen, wurde jeden Tag wieder gekocht, und in den in die Mauern eingelassenen Nischen standen die Truhen mit dem wertvollsten Besitz der Familien. Viele Generationen von Menschen erlebten hier Freud und Leid, bevor das Werk ihrer Arbeit nun von Gestrüpp überwuchert wird.
So kam ich nach und nach in fast alle Dörfer der Insel. Während der Süden hügelig ist, wird der Norden von zwei sich bis auf 1300 m erhebenden Gebirgszügen durchzogen. Die Zeiten schlechter Straßen sind auch hier schon vorbei und so machte es Freude gemütlich durch die wechselnde Landschaft zu fahren. Den gleich nach der Ankunft im Kofferraum des Mietautos angelegten Wasservorrat benötigte ich fast nicht, denn es wäre schade gewesen, hätte ich nicht den Wagen immer wieder an den Ortseinfahrten eingeparkt und hätte nach einem Spaziergang durch die Winkel der Dörfer eine Rastpause in einem der Kafeneions an der Platia, die es in jedem Dorf gibt, eingelegt. So viele Kaffeedes und frischgepresste Orangensäfte werde ich wohl länger Zeit nicht bekommen. Nein, langweilig wurde es dabei nie, denn immer wieder gab es Interessantes zu beobachten. Sei es, dem Hund zuzusehen, der darauf trainiert wurde, die vielen streunenden Katzen die Bäume hochzujagen oder zu versuchen, den Gesprächen der Einheimischen am Nebentisch zu folgen. Manchmal ergaben sich auch lustige Dialoge mit den Kindern der Wirtsleute oder mit einem alten Mütterchen, das es einfach nicht wahrhaben wollte, dass ein Xenos (Fremder) einfach so in den Ort kam, ohne dort Verwandtschaft zu haben.
Über die ganze Insel verstreut findet man Stätten, die die Geschichte der Insel widerspiegeln. Von der langen Zeit, die Chios Teil des Osmanischen Reiches war, zeugen noch seldschukische Festungen, die großteils nicht neu angelegt, sondern als bestehende byzantinische Festungen adaptiert und weiterverwendet wurden.
Für Genua war Chios ein bedeutender Posten zur Sicherung seiner Handelsrouten (1304-1329, 1346-1566). Der Konkurrent Venedig war vom 14. Jhdt. an im Besitz der nördlicheren Inseln sowie Kretas, deshalb wurde viel Aufwand in die Sicherung der Insel verwendet. Interessanterweise war Genua nicht durch Regentendynastien vertreten, sondern schon damals durch Bank- und Handelshäuser. Rund um die Insel wurde ein Kette von Türmen errichtet, die das Herannahen von Schiffen meldeten. Der Einfluss auf die Dorfbefestigungen wurde bereits beschreiben.
Fundstellen aus der griechischen Antike gibt es mehrere, sehenswert sind aber eigentlich nur die Funde davon im Museum in Chios-Stadt, die Fundorte selbst bieten für den Nicht-Archäologen kaum sehenswertes (allerdings gibt es nahe der antiken Tempel meist auch Kirchen oder Kapellen, z.B. bei Kato Fana).
Eine herausragende Ausnahme ist der Siedlungshügel von Emporeio. Über der Bucht mit dem neuzeitlichen Dorf, die damals als Naturhafen diente, befindet sich auf dem seit der frühen Jungsteinzeit (6000 v.Chr.) besiedelten Hügel eine über mykenischen Resten ab dem 8. Jhdt.v.Chr. errichtete ionische Anlage. Die Ionier kolonialisierten Chios von Kleinasien kommend damit früher als andere Orte in Griechenland. Die Bedeutung von Chios in damaliger Zeit lässt sich auch daran ermessen, dass Chios zur Dodekapolis 1) gehörte, die 512 v.Chr. durch die persische Eroberung ein Ende fand. Nach dem griechischen Sieg über die Perser in den Schlachten von Salamis und Platäa fand Chios als Teil des Attischen Seebundes zu neuer Blüte. Neben dem sensationell gut präsentierten Grabungsgelände finden sich von Walbränden verwüstete Hänge, dieses Jahr ist Chios aber glücklicherweise von größeren Bränden verschont geblieben.
Die Vegetation ist natürlich daran angepasst, dass es im Sommer keinen Niederschlag gibt. So dominiert die Macia, das Dickicht aus dornigem Gestrüpp. Kenner können darunter viele Gewürzpflanzen erkennen, ich bemerke sie nur am Duft der Hosenbeine. In vielen Teilen der Insel gibt es unerwartet große Kieferwälder. Überall findet man natürlich auch Olivenbäume, auf denen sich im Spätsommer gerade die Früchte zu verfärben begannen.
In der im Osten gelegenen Ebene des Kambos, wo das Grundwasser nahe der Oberfläche einen See bildet, werden auch Zitrusfrüchte geerntet.
Neben der typischen mediterranen Vegetation gibt es im Inselsüden eine Besonderheit, die für den relativen Wohlstand der Insel verantwortlich war und ist, der Mastixbaum. Nur hier lässt sich aus den Ritzen, die in den Stamm und die Äste des zur Familie der Pistaziengewächse gehörenden Baums das wertvolle Harz in verwertbarer Menge gewinnen. Die Flächen unter den Bäumen werden von den Landwirten gesäubert und das von den Bäumen abfallende Material eingesammelt. Die Frauen sitzen dann vor den Häusern und Trennen Laub und Verunreinigungen zuerst grob, in einem zweiten Durchgang dann mit der Pinzette sehr genau vom Harz.
Die Bedeutung des Mastixharzes kommt von seiner desinfizierenden Wirkung und seinen Eigenschaften als Kleber. Schon lange ist Mastix als natürlicher Kaugummi bekannt. Selbst die Frauen des Sultans sollen im Harem ständig Mastix zur Zahnpflege und zum Vergnügen gekaut haben. In den Ländern der Levante und des arabischen Raumes ist es bis heute ein wichtiges Gewürzmittel, ins bekannte Lokum (Loukoumia) wird es oft beigefügt. Schließlich findet es auch als Duftstoff Verwendung, der besonders als Räuchergabe sein feines Aroma verströmt.
Eine Verarbeitung ist nicht unbedingt erforderlich, schon das reine Narurmastix ist kaubar. Wer dies einige Zeit tut wird bald merken, wie klebrig das Harz wird. Dieser Klebstoff wird zu Spezialklebern verarbeitet, die selbst in der Raumfahrt Verwendung finden. Mastix enthält auch hochwertiges Kolophonium. Da das aus Mastix gewonnene Kolophonium weniger spröde als jenes anderer Bäume ist, werden mit den daraus erzeugten teuren Lacken beispielsweise Geigen lackiert und Ölgemälde finalisiert.
Wegen dieses vielfältigen Einsatzes und den Eigenschaften des Harzes, die so industriell nicht nachbildbar sind, wird auch heute noch diese mühevolle Ernte durchgeführt, denn nur etwa 100 Gramm liefert ein Baum im Jahr.
Da stand doch glatt in einem Reisebericht, dass es auf Chios nur wenige Strände gäbe. No sowas, der Autor kann wohl nicht dort gewesen sein. Berechtigt ist sicher die Kritik, wie ich sie beim Heimflug gehört habe, dass es oft keine Liegestühle und Sonnenschirme gibt. Denn die findet man nur nahe bei den Touristikzentren der Ostküste. Was andere bemängeln, fand ich einfach toll. Denn in nahezu jeder Bucht rund um die Insel hat sich ein kleiner oder auch größerer Strand gebildet, so dass man bei einer Rundfahrt, egal wo man sich auch befindet, immer schnell eine wunderbare Badebucht findet. Das Angebot ist so groß (und die Besucher so gering in der Zahl), dass man nach dem Motto „Bucht ist schon von zwei Menschen belegt - dann muss ich eben weiter zur nächsten“ immer einen Strand ganz allein für sich findet.
Und einen Strand habe ich täglich gesucht und gefunden. Ich hatte ja schließlich Urlaub, und der sollte ja auch der Erholung dienen. So kam am späten Nachmittag nach ausgiebigem Besichtigungsprogramm die Zeit, das Badetuch für ein verspätetes Mittagsschläfchen, ein ausgiebiges Bad im noch warmen klaren Wasser und etwas Sonne am Rücken beim Lesen auszubreiten. „Schön ist es hier“, habe ich wohl oft gedacht.
Nur eins war es nicht am Strand: ruhig. Wie laut das Tosen der Wellen und ein leichter Wind eigentlich sind, fällt einem erst auf, wenn man ihn wieder verlässt und man sich der Ruhe im Wald bewusst wird.
Ein Erlebnis der besonderen Art war ein Ausflug in die Türkei. Einfach mit dem Mietauto auf die Fähre zu fahren und ins Nachbarland zu reisen ist nicht erlaubt, also habe ich die Organisation und den Transport einem örtlichen Reisebüro überlassen und in Chios-Stadt einen Zweitagesausflug gebucht. Das ich der einzige „Exot“ in der griechischen Gruppe war, machte das ganze spannend. Nach der einstündigen Überfahrt von Chios-Stadt weg bei dem, was ich für eine unruhiges Meer hielt, galt es für mich in Tsesme (türk. Cesme) als einzigen ein Einreisevisum zu organisieren, um zum Ziel des Tages weiterfahren zu dürfen. Schon bei der Einfahrt in die Stadt durch gewaltige Satellitensiedlungen macht sich bemerkbar, dass Smyrna (türk. Izmir) eine Großstadt mit heute 3 Mio. Einwohnern ist. Da dauert es schon einige Zeit, bis man mit dem Bus ins Stadtzentrum vordringt. Der türkische Reiseleiter redete während der Fahrt ununterbrochen, erzählte von der Geschichte der Stadt, der Politik der Türkei und der Religion des Islam. Alle hörten interessiert zu, nur ich verstand so ziemlich „Gar-Nix“. Es fehlen eindeutig zu den 8 Semestern noch weitere 80, um soviel an Sprachkenntnis zu erwerben, dass ich auch einigermaßen folgen könnte. Nach einer kurzen Runde durchs Zentrum kamen wir zum Hotel und ich konnte wenigstens entnehmen, dass das Abendessen für 21 Uhr angesetzt war.
Dass der Reiseleiter überhaupt kein Englisch, sondern ausschließlich Türkisch und Griechisch spricht stellte ich fest, als ich ihm auseinandersetzte, dass ich mich selbständig machen und die Stadt alleine erkunden würde. Entlang der großen Bucht, an deren Ende die Großstadt Izmir liegt, wurde eine breite Promenade angelegt, auf der viele Leute unterwegs sind. Die Bekleidung der Leute und die Gebäude entlang des Boulevards machen einen sehr modernen Eindruck, das würde auch gut in den Westen passen. An großartigen Sehenswürdigkeiten gibt es in Izmir wenig, die antike Agora ist relativ bescheiden (die große Zisterne ist imposant). Ich wollte aber trotzdem gerne die Stadt um die große Bucht sehen, denn von der Stadt habe ich schon oft in Romanen und historischen Berichten gelesen. Zu Anfang des 20. Jhdts. muss es sich eine großartige Stadt gehandelt haben, ein kosmopolitisches Handelszentrum, dass alle Ankömmlinge mit seiner Pracht und Fülle überwältigte, die in der Tragödie des 13.9.1922 ein Ende fand. Unter den Augen der Westmächte, die von ihren im Hafenbecken ankernden Schiffen aus tatenlos zusahen, kamen mehr als 25.000 Menschen bei dem verheerenden Brand in den christlichen Stadtvierteln entlang des Hafenkais und durch die Gräuel der türkischen Angreifer ums Leben, 200.000 Menschen mussten die Stadt verlassen.
Buchtip: Smyrna 1992 – The Destruction of a City, M.H. Dobkin, Newmark Press
Von den prächtigen neoklassizistischen Handelshäusern entlang des Hafens sind nur eine Handvoll erhalten, an ihrer Stelle steht heute das moderne Stadtzentrum. Eine Vorstellung von der einstigen Stadt kann man sich heute nicht mehr machen, jedoch ist die Lage in der großen, von Bergen umsäumten Bucht einprägsam.
Nach einem Spaziergang entlang der geschätzten 2 km langen Promenade am Ufer kehrte ich noch in eins der vielen netten Kaffehäuser ein. Ein Bier verschaffte angenehme Erfrischung. Eigentlich hätte ich es während des Ramadans nicht zu bestellen gewagt, aber da viele andere Gäste auch nicht darauf verzichteten, ließ ich es mir schmecken. Das Bild der westlich geprägten Stadt änderte sich aber rasch, als ich die verbleibende Zeit noch dazu nützte, auf einen der die Stadt überblickenden Hügel hinaufzumarschieren. Sobald man das Stadtzentrum verlässt und die Straßen anzusteigen beginnen, geht man durch ärmlichere Wohnviertel. Lästige Kindern begleiteten mich auf dem Weg durch den Dreck, die allesamt verschleierten (nicht nur Kopftuch) Frauen blicken nur neugierig. Nach ein paar schnellen Fotos durch eine Baulücke kehre ich um, mir reicht es hier, besonders die stetig angewachsene schreiende Kinderhorde. Irgendwie fühlte ich mich einfach nicht mehr sicher. Europa endet spätestens am Rand der Innenstadt von Izmir.
Zurück in der sicheren Zivilisation wurde mir dafür ein Schauspiel geboten, wie ich's auf Chios heuer leider nie erleben durfte – ein herrlicher Sonnenuntergang am Meer. Blutrot sank die Sonne hinter den Horizont. Danach wurde es Zeit ins Hotel zurückzukehren, um den Abend mit den griechischen Reisegefährten nicht zu versäumen. Und der Abend war auch ziemlich lustig. Ohne mich aufgedrängt zu haben, stand ich im Zentrum des Interesses: wie hatte das bloß passieren können, dass ich mich mit an Bord verirrt hatte?
Die am zweiten Tag für 8 Uhr angesetzte Abreise fand nach dem Eintreffen der letzten Teilnehmer um 8:45 doch statt, aber offensichtlich störte das niemanden. Wie würde wohl eine deutsche Gruppe auf diese griechische Sitte reagieren?
Wir kamen auch so zu unserem Ziel, der Stätte der antiken Stadt Ephesos. Eigentlich wollte ich mich wieder alleine auf Rundgang machen, als die Gruppenmitglieder aber im Chor mit Begeisterung die in ihrer Sprache abgefassten alten Inschriften zu lesen begannen, blieb ich doch mit von der Partie. Was der Guide über die Geschichte dieser Stadt, die in römischer und frühchristlicher Zeit eine bedeutende Rolle spielte erzählte, verstand ich zwar nicht, glücklicherweise hatte ich aber meine daheim vorbereiteten Unterlagen mitgebracht und konnte mir auch so ein gutes Bild von diesem eindrucksvollen Areal machen.
Von der Oberen Agora mit seinen angrenzenden Tempelanlagen und dem Kleinen Theater (Odeieon) führte der Marsch über die Kuretenstraße an Thermen, Brunnenanlagen und den Hanghäusern vorbei zur Unteren Agora, wo sich hauptsächlich Geschäfte befanden. Dabei passierten wir das bekannteste Bauwerk, die wiedererrichtete Fassade der Celsus-Bibliothek. Nicht nur davon befinden sich ja viele Statuen und Fragmente im Ephesos-Museum in Wien.
Ein Stück die Ränge des eindrucksvollen Theaters hochzusteigen gehörte wohl auch zum Pflichtprogramm, bevor wir am Weg zum ehemaligen Hafen auf den am Parkplatz wartenden Bus trafen. Solch lästige Händler wie dort liebe ich sehr, sie haben wirklich recht, wenn sie alle Passanten als “ihre Freunde” ansprechen.
Als der Hafen von Ephesos verlandete, begann der Aufschwung einer anderen Stadt in der Nähe. Kusadasi war als Scala Nova ein wichtiger Handelshafen der Genuesen und Venezianer. Genau dorthin fuhren wir dann auch. Heute ist die Stadt als Tourismuszentrum mit einer Vielzahl an Hotels in seiner Umgebung bekannt, für die griechischen Reisekollegen war es vor allem als Einkaufsgelegenheit in der billigeren Türkei interessant.
Da ich weder ein Hotel noch einen Shop suchte, machte ich mir's am Ufer gemütlich. Ganz gespannt konnte ich das Einlaufen von großen Kreuzfahrtschiffen beobachten und die Sonne genießen. Erst dort konnte ich herausfinden, dass Ephesos in türkischer Sprache Efes heißt, und danach die bekannte Hopfenlimonade benannt wurde. Na bitte, trinken bildet! Nachdem der Wissensdurst gestillt war, spazierte ich aber dann doch etwas herum (wer weiß, was ich sonst noch erfahren hätte) und sah mir dir kleine Festung auf der vorgelagerten Vogelinsel und den kleinen Basar der gepflegten Stadt an.
Die „kurze“ Rückfahrt von Tsesme nach Chios war eines jener Abenteuer, wie man sie eigentlich gar nicht erleben möchte. Schon beim Abholen der Bordkarte wurde darauf hingewiesen, dass am offenen Meer ein „Lüfterl“ mit 9 bis 10 Beaufort blies, und das Ticket auch an späteren Tagen gültig bliebe. Einige Reiseteilnehmer begaben sich daraufhin auch auf die Suche nach einem Hotelzimmer. Die Stunde würde ich schon durchstehen, dachte ich, schließlich wollte ich „nach Hause“. Niemand durfte am Außendeck bleiben, so war die Kabine des kleinen Schiffs voll gefüllt. Als alle Luken verschraubt wurden und das Schiff auslief, wurde noch über die südkoreanische Gruppe, die mit an Bord war, gespottet. Bei dem unvorstellbaren Inferno, das aber auf offener See losbrach, als dann wohl eine Viertel der Leute an Bord die vorsorglich ausgeteilten Kotztüten zu füllen begannen, waren aber alle gleich. Eine große Fähre wäre vom Seegang weniger beeindruckt gewesen, aber das kleine Schiff vollführte unglaubliche Bewegungen/Sprünge/Drehungen, in alle Richtungen gleichzeitig. Zwei in Panik geratene Frauen begannen hysterisch zu schreien und später nur mehr zu wimmern, andere riefen die Heiligen zur Hilfe, und in der furchtbaren sauerstoffarmen Hitze in Ohnmacht gefallene Asiatinnen wurden durchgereicht und am Boden abgelegt. Nein, Seefahrtsromantik kam da nicht auf. Obwohl ich selbst diese Höllenfahrt nur mit etwas flauem Magen und erhöhtem Adrenalinspiegel durchstand, auf ein Boot wäre ich danach nicht mehr freiwillig gestiegen – sicher nicht!
Zwei Wochen, noch dazu so schöne, vergingen rasch, und wehmütig hieß es von der liebgewonnenen Umgebung, besonders von Pyrgi uns seinen Leuten, Abschied nehmen.
Im der gerade anbrechenden Morgengrauen machte ich mich ein letztes Mal auf die 45minütige Fahrt nach Chios-Stadt. Die erste Etappe des Rückflugs war noch großartig, denn wegen der für einen bis Wien betankten Fliegers zu kurzen Startbahn und der wenigen Urlauber auf Chios ging es im Tiefflug nach Samos, wo Treibstoff und weitere Urlauber geladen wurden. Die Ausblicke auf die ägäische Inselwelt waren einfach sensationell schön.
Chios als Urlaubsziel war eine ausgezeichnete Wahl. Gute Vorbereitung, das Wissen um die Geographie und Sehenswürdigkeiten der Insel machten sich bezahlt und erlaubten tolle Urlaubswochen mit bleibenden Eindrücken. Könnte man Glück zerteilen und bei Bedarf auspacken, es würde für lange Zeit reichen.
Als der Taxilenker dann bei der Fahrt von Schwechat ins herbstliche Wien die Scheibenwischer auf den kürzesten Intervall stellte, dachte ich an meinen Lebenstraum, und dass dieser nicht von ungefähr kommt.
Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet. - David Hume